5. Mai 2024

Auf dem Heiligenberg in Heidelberg

Ich hatte es mir so entspannt vorgestellt: Mit dem ICE um halb Acht  nach Frankfurt fahren, um dann um  11 Uhr meine Stadtbegehung zu starten. Leider kam es anders. Der ICE war schon vor Hannover liegen belieben und fiel ersatzlos aus. Der IC, der mir als Ersatz angeboten wurde, fuhr später, brauchte länger und hatte schon  in Hannover eine Verspätung von 10 Minuten. Es wurde nicht besser. Außerplanmäßig musste er nach Darmstadt fahren, weil irgendetwas umrangiert werden musste, um dann eine andere Strecke nach Heidelberg zu fahren. Dank all dieser Umstände hatte ich nun zwar ausreichend Zeit, um mein Buch zu lesen, meine Aufenthaltsdauer in Heidelberg reduzierte sich so aber so auf magere vier Stunden.

Nun  hatte ich leider keine Zeit mehr  für die hübsche Altstadt, die aufgrund der Vorweihnachtssaison sowieso überfüllt war: Ich wollte zumindest den Thingplatz sehen. So überquerte ich also die Altstadt-Brücke und ging eine steile Straße (genannt Schlangenweg), die aus vielen, vielen Treppen bestand, hinauf und erreichte so den Philosophenweg.

Im Philosophengärtchen steht in der sogenannten Hölderlin-Anlage ein Gedenkstein  mit einem Zitat des gleichnamigen Dichters aus der “Heidelberg Ode”.

 

Darin heißt es:

Lang lieb’ ich Dich schon, möchte Dich, mir zur Lust,
Mutter nennen, und Dir schenken ein kunstlos Lied,
Du der Vaterlandsstädte
Ländlichschönste, so viel ich sah.

Recht hat er: Auch heute noch ist das Stadtpanorama von Heidelberg bezaubernd schön.

Dass, die Stadt, die Hölderlin  liebt, “Mutter” genannt werden soll, gleichsam zu den “Vater”landsstädten gehören soll, finde ich bemerkenswert, bin aber in der Folge körperlich zu angestrengt, um hier weiter meinen Gedanken nachzuhängen.

Ich mäanderte weiter den Heiligenberg hinauf, immer auf der Suche nach dem Thingplatz, den ich mir unbedingt anschauen wollte.

Die schneenassen Blätter waren rutschig. Ich nahm dann noch eine steile Abzweigung zur Kanzlei von Merian, wo er sein Heidelberg-Panorama von 1620 gezeichnet haben soll,  nahm die Weiterverfolgung des Weges jedoch als nicht zielführend an und kehrte um. Das wäre nicht nötig gewesen, wie ich später erfuhr.

So ging ich zurück zum unteren Philosophenweg und wollte angesichts der fortschreitenden Zeit das ganze Projekt Thingplatz-Erkundung aufgeben, ging dann aber doch beherzt den breiten Weg weiter,  der sich großzügig in Richtung Bergspitze schlängelte. Wenn das so weitergehen würde, hätte ich wenig Muße am Ziel, dachte ich mir besorgt. Und leider brauchten die Schlängeleien des Weges seine Zeit.   Ein altes Informationsschrift in Frakturschrift wies mich darauf hin, dass ich gerade den äußeren Ring einer Befestigungsanlage  der Kelten  gegen die Germanen passierte. Ich hetzte also weiter den Berg hinauf, der sich mir doch so eigenartig widerspenstig zeigte. Es war dann schon nach 15 Uhr, als ich endlich die Kuppel des Berges erreichte. Das Thinggelände war nicht als solches ausgezeichnet, aber Google Maps kannte es. Hier wurde es jedoch “Heiligenberganlage” genannt.

Eine bequeme Auffahrt mit dem Bus wäre auch möglich gewesen, jedoch nur in den Sommermonaten. Doch so ein Aufstieg  hat seinen Reiz, wenn man denn genügend Zeit und Muße mitbringt und sich so langsam den Berg energetisch annähern kann.

Ich jedenfalls habe den Weg zur Spitze, genauso wie den ganzen Ausflug nach Heidelberg,  als eine Art von individualmythologischer Pilgerung verstanden.  Vorbereitet hatte ich mich nicht gut darauf, hatte aber den ganzen Tag den Eindruck, dass der Berg mich auf irgendeine Art und Weise gerufen hatte.

Jetzt war ich also oben angekommen, leider  aber nicht alleine. Ein paar junge Mädchen ließen sich vor der nationalsozialistischen Theater-Kulisse  für Instagram & Co. fotografieren. Eine Familie schaute sich ebenfalls den Thingplatz an. Ich begegnete ihnen später, beim Rückweg, immer wieder. Er hatte anscheinend den ganzen Weg hinauf (und dann hinab) einen Kinderwagen mit Kleinkind hoch geschoben, was mir, angesichts meiner eigenen Erschöpfung, tiefsten Respekt einflößte.

Die Nationalsozialisten bevorzugten für ihre Weihestätten ja magisch aufgeladene Stätte und so verwundert es nicht, dass sie diesem Ort, an dem sich nicht nur ein keltisches, sondern auch ein römisches Heiligtum befunden hat, aussuchten. Ihre Forscher gingen sogar davon aus, dass sich auf dem Heiligenberg auch eine germanische Gerichtsstätte befunden haben soll und so scheint es nur folgerichtig zu sein, dass sie diesen Ort wiederbeleben wollten.

Die Thingspiel-Bewegung ist bereits vor der nationalsozialistischen Regierungszeit, nämlich im Zuge der Jugendbewegung entstanden. Durch Freilicht-Theater, Tanz, Gesang und Fahrten sollte nicht nur die eigene Kultur belebt, sondern auch eine Abkehr von der als verkrustet empfundenen wilhelminischen Ära vollzogen werden.

Die Heidelberger Anlage wurde 1934/35 nach Plänen des Architekten Hermann Aller vom RAD sowie Heidelberger Studenten innerhalb eines Jahres errichtet. Die Anlage ist, umgeben von Bäumen, an die Bergkuppe angelehnt. Hier wollten die Nationalsozialisten unter anderem die jährlichen ‘Reichsfestspiele’ abhalten; hier wurden aber auch Sonnwendfeiern oder andere kulturelle Veranstaltungen abgehalten. Die germanisch inszenierte Thingstätte hatte ein Fassungsvermögen von 20.000 Zuschauern. Goebbes persönlich weihte am 22. Juni 1935 diese Kultstätte ein; es erschienen Fahnenabordnungen unterschiedlicher Gruppierungen, die dort ihre Zeremonien abhielten. Dennoch verlor die NS-Führung bald die Lust an diesen Inszenierungen. 1936 wurde der Begriff Thingstätte per Erlass durch ‘Feierstätte Heiligenberg’ ersetzt.  (La Speranza, Marcello: Brisante Architektur, Graz 2016, S. 111)

Hinter dem Thingplatz befindet sich die Klosterruine St. Michael. Einst war hier ein Benediktiner-Kloster gewesen.

Schon bei meiner Exkursion zum Klusfelsen in Goslar, über dem sich ebenfalls eine Michaeliskirche befindet, hatte ich gelernt, dass der namentliche Bezug zum Erzengel Michael (lies auch hier)  meist auf einem Wotans-Kult hindeutet. Gerne hätte ich mir das alles näher angeschaut, doch der Klang einer Kirchenglocke der Heidelberger Innenstadt schallte den Berg hinauf: vier Mal. Meine Bahnverbindung sollte vom Heidelberger Hauptbahnhof um 16.46 Uhr starten und die freundliche Stimme meines Handys sagte mir, dass die Wegzeit zum Hauptbahnhof 50 Minuten betragen sollte. So blieb keine Zeit mehr für das Kloster, das Stephanskloster, den römischen Mercurius-Tempel und das Heidenloch.   Ein  Keltenweg-Wanderweg hätte mich darüber hinaus die keltischen Wallanlagen entdecken lassen.   Anstatt also in müßigen Betrachtungen, archäologischen Entdeckungen  und geomantisch-magischen  Nachfühlens der Energien der verschiedenen heiligen Orte zu verweilen, lief ich in rasantem Tempo den Berg hinunter, wieder an der Meriankanzel vorbei, rutschte dabei auf den Blättern (erneut) aus und stand, obwohl ich meine eigentliche Mission als vollendet angesehen hatte,  plötzlich erstaunt vor einem imposanten Bismarckturm, der Variante Götterdämmerung. Er weist sogar noch eine Feuerschale auf, deren Betrieb, wegen brandtechnischer Vorschriften, aber nicht mehr erlaubt ist.

Ich “sammle” ja Bismarcktürme und so schoss ich noch schnell ein Foto, bevor es dann weiter hinab ging.

Mehr Bismarcktürme könnt ihr hier sehen.

Hübsche Villen säumten mir den Weg, bevor ich dann eine moderne Brücke überquerte. Auf der anderen Seiten des Neckars sah ich eine Haltestelle für  öffentliche Verkehrsmittel, sodass ich dann ganz schnell einen Bus in Richtung Hauptbahnhof nahm. So war ich dann noch gerade rechtzeitig  am Bahnhof und konnte mich im Zug ausruhen.

Die Rückfahrt mit der Bahn gestaltete sich überraschenderweise problemlos. In Erstaunen versetzte mich nur eine Mitreisende, die ihren kurdischen Sitznachbarn im mittleren Alter interessiert über die Lage im Irak, seine Fluchtgründe, den IS und seine yezidische Religion ausfragte, dabei so ziemlich ihr gesamtes Leben preisgab  und zum Schluss den Herrn  ihre Whats-App-Nummer, zwecks gemeinsamen Arabisch-Deutschen-Tandem-Lernens, fast aufdrängte. Ich war mir die ganze Zeit, während ich notgedrungen der Konservation zuhörte, von der freundlichen Neugierde  der jungen Dame genauso fasziniert, wie von deren offensichtlicher Naivität abgestoßen, was ja ein gar eigentümlicher Widerspruch ist.  Anscheinend hat sie in ihrem bisherigen Leben noch nicht die kleinste Spur einer schlechten Erfahrung machen müssen und so hoffe ich für sie, dass sie sich diese gutmütige Leichtigkeit bewahren kann.

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