5. Oktober 2025

Unehrlichkeit

dresden 45

Unehrlichkeit: Dieser Begriff bezeichnete im Mittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit keine sittlich-moralische Kategorie, vielmehr handelt es sich um eine juristische Definition. „Unehrlich“ war, wer einen „unehrlichen“ Beruf ausübt. Dies waren, wobei es je nach regionaler Definition durchaus Unterschiede gab, zu Beginn des 15. Jahrhunderts beispielsweise Henker, Latrinenleerer, Schinder, Gaukler und Prostituierte.

Beim Versuch einer einheitlichen Definition dieser Berufe kann man oberflächlich davon ausgehen, dass umherziehende Fremde, seien es nun Schausteller, Wahrsager oder Scherenschleifer, genauso wie Menschen, die mit der Tötung von Lebewesen zu tun hatten, als „unehrlich“ galten.

Allerdings fasst diese Erklärung nicht alle „unehrlichen“ Berufe zusammen, zumal die Auslegung von Landesteil zu Landesteil unterschiedlich gehandhabt wurde. Die Leinweber beispielsweise, deren Beruf in einigen Regionen als „unehrlich“ galt, in anderen wiederum nicht, entziehen sich dieser Definition.

Wie dem auch sei: Auf all diese beruflichen Gruppierungen konnte die Gesellschaft zwar nicht verzichten; die Menschen jedoch, die diese Arbeiten ausführten, wurden verachtet.

Insofern nehme ich jetzt mutig an, dass derjenige, der den „unehrlichen“ Berufen angehörte, auch nichts mehr zu verlieren hatte und wenn er nicht, was in Mitteleuropa der damaligen Zeit jedoch extrem unwahrscheinlich gewesen wäre, dem Determinismus eines indischen Kastendenkens verfallen wäre oder, was wahrscheinlicher ist, die Plagen des jetzigen Lebens auf eine göttliche Belohnung jenseits des „Jüngsten Gerichtes“ verortet hätte, dann wäre durch eine solche Stigmatisierung der Geist der Rebellion geschürt worden.

Dem Leser wird nun aufgefallen sein, dass dies eine selbstbewusste Behauptung von mir ist, denn schließlich kann ich nicht sicher sein, ob die psychische Verfassung eines heutigen Menschen mit dem eines Menschen im 15. Jahrhundert auch nur annähernd vergleichbar ist. Angenommen jedoch meine waghalsige Hypothese würde stimmen und die menschlichen Unterschiede wären nicht so groß wie man es vielleicht vermuten könnte, dann ließe sich annehmen, dass diejenigen der Unehrlichen, die sich der religiösen Daumenschraube entledigt hätten, gerade bedingt durch ihre angenommene Stigmatisierung, auch im 15. Jahrhundert schon fähig zum sozialen Protest gewesen wären.

Ich nehme also an, kann es jedoch nicht verifizieren: Wer zu den „unehrlichen“ Schichten gehörte, wollte – von Ausnahmen abgesehen – „ehrlich“ sein. Wer heute zur Mittelschicht gehört, orientiert sich an einer elaborierten Geldadelsschicht, um eine Zugehörigkeit zu erlangen, die doch verwehrt bleibt. „Bildung“ soll dann den Ausgleich schaffen, ungeachtet der Tatsache, dass in Deutschland Bildung schon längst kein Garant mehr für gesellschaftlichen Aufstieg darstellt. „Unehrlichkeit“, im Sinne meiner vorangegangenen Erläuterungen, ist „die“ Waffe überhaupt, die uns in einer Gesellschaft überleben lässt, die vom Verlust von Heimat geprägt ist und die uns dafür nur die trostlose Anonymität einer stylischen Großstadt gibt, die als einzigen Wertmaßstab die Huldigung der Warenwelt kennt. Die „unehrlichen“ Berufe sind heute vom Prekariat abgelöst worden. „Unehrlichkeit“ gibt uns die Freiheit zurück, auf anerzogene Normen und Werte zu pfeifen, die uns doch nur gefangen halten, zumal heutzutage Angehörige des Prekariats durchaus ein hohes Bildungsniveau erreicht haben und so intellektuell durchaus in der Lage sind, das Gefängnis als ein solches zu erkennen.

Jetzt will ich sicherlich nicht zum gewalttätigen Widerstand aufrufen, vielmehr zu einem leisen, friedlichen Protest, der beispielsweise durch gezielte Konsum-, Arbeits- und Medienverweigerung sein Ziel erreicht. Denn wenn wir ehrlich mit uns selbst sind: Wir haben nichts zu verlieren, außer das Kokon aus vermeintlicher Sicherheit, das aber in Wirklichkeit „Sklaverei“ heißt. Wie sagte schon Rousseau: „Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten.“

Solange wir mitmachen, weil wir meinen, dass auch wir partizipieren können, stützen wir eine kleine Machtelite, die sich nicht um uns kümmert, die uns bei lebendigem Leibe ausbluten lässt – erbarmungslos. Und indem wir uns noch an angeblich „guten“ Glaubenssätzen klammern, domestizieren wir uns dabei selbst, ohne dass die Sklaventreiber auch nur in Erscheinung treten müssen. Alles verläuft subtil, was ungemein perfide ist.

So lasst uns all die überlieferten Dogmen, die uns daran hindern, die Faust zu ballen und auf unser Lebensrecht zu bestehen, fortwerfen. Wenn wir nicht verdammt sein wollen, ewige Verlierer zu sein, müssen wir den Mut haben, für uns selbst einzutreten. In diesem Sinne verstandenes „unehrliches“ Verhalten bringt Vorteile, denn wir erlangen damit unsere Selbstbestimmung zurück, was ja im modernen Sinne auch wirkliche Ehrlichkeit, nämlich Integrität, bedeutet. Lieber habe ich Feinde, als dass ich hinterrücks müde bemitleidet und belächelt werden.

(Textauszug aus meinem Buch “Lasst uns böse sein”, Foto: Dresden nach dem Bombenangriff am 14.2.1945)

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