(Ein Interludium in meiner Irland-Folge)
Halberstadt war ein Tag zwischen Hitze, Kupplungsproblemen und gelebter Freundschaft.
Das Auto zickte mehrfach – zu Beginn des Ausfluges in Hannover, in Hildesheim, beim Parken vor dem Gleimhaus. Fast hätte ich den ADAC gerufen, aber dann startete es doch. Vorsorglich verzichtete ich bei der Rückfahrt auf den geplanten Abstecher in den Landschaftspark Spiegelsberge.
Vor zehn Jahren war genau dieser der Startpunkt einer bemerkenswerten Wanderung für mich gewesen, die sich hier nachlesen läßt.
Jetzt also das Gleimhaus:
Ein stiller, heller Ort. Bilder von Freundschaften, gesammelt wie ein innerer Kosmos.
Manchmal ist es gerade das Unscheinbare, das sich als Schatz erweist. Das Gleimhaus in Halberstadt – einem Dichter der Aufklärung gewidmet – empfängt seine Besucher mit freundlicher Wärme und stiller Würde. Heute war ich dort.
Die Ausstellung ist angenehm vielfältig: Bücher, Bilder, Handschriften, Gedanken. Kein Prunk, kein Effektgewitter – und doch berührend in ihrer Substanz. Besonders beeindruckt hat mich der sogenannte Tempel der Freundschaft: ein Raum voller Portraits von Gleims Weggefährten, Dichterkollegen, Geistesverwandten.
Gleim sammelte nicht nur Kunst – er sammelte Beziehungen. Sichtbar gemacht in diesen Bildern, in Briefen, in seinen Gedichten. Eine kleine, große Erinnerung daran, dass Freundschaft mehr sein kann als private Nähe: eine geistige Kraft, die Räume schafft – vielleicht sogar Tempel.
In der Gleimschen Idee von Freundschaft spiegelt sich ein Verständnis, das zwischen bloßer Zweckbindung und empfindsamer Innerlichkeit eine eigenständige Position behauptet. Während die frühe Neuzeit Freundschaft zunehmend im Licht von Nützlichkeit und politischer Instrumentalisierung betrachtete – als soziales Kapital in höfischen Netzwerken und klientelistischen Beziehungen –, verstand Gleim Freundschaft als moralische, beinahe geistige Verbindung: getragen von Vertrauen, Gleichgesinntheit und dem Streben nach gegenseitiger Vervollkommnung. Diese Haltung unterscheidet sich deutlich sowohl vom reinen Nutzenkalkül, das im 18. Jahrhundert vielerorts dominiert, als auch von der späteren empfindsamen Überhöhung zur Herzensreligion. In einem Zeitalter, das strategisches Beziehungsmanagement betrieb – nicht unähnlich unserer Gegenwart mit ihrem Netzwerkdenken –, wirkt Gleims Freundschaftskultur beinahe wie ein poetisch-humanistischer Kontrapunkt: aufrichtig, verbindlich, aber ohne sentimentale Aufladung. Sie zeugt von einem Ideal, das in der sozialen wie inneren Welt des Menschen eine ethische Praxis begründen wollte – nicht bloß ein emotionales Gefühl oder ein funktionales Bündnis.
Der Tempel der Freundschaft
Im „Tempel der Freundschaft“ ergab sich auch bei meinem Besuch ein langes Gespräch mit einem Fremden aus Brandenburg. Und das Gefühl:
So war das einmal – Menschen verbanden sich über Gedanken, Geist und Güte. Und der Wunsch kam bei mir auf, daß sich dieses alte Ideal wieder in der Gegenwart etablieren lassen könnte.

Doch während dieses Gespräches, das wie ein leiser Widerhall der Freundschsftsideale des 18. Jahrhunderts klang, begann ich, mich darüber zu wundern, warum ich von Gleim zuvor nie etwas gehört hatte und dies obwohl ich Literaturwissenschaften studiert habe. Was könnten die Gründe dafür sein?
Warum Gleim aus dem Blick geriet
Vielleicht findet sich eine mögliche Erklärung darin, daß die westdeutsche Germanistik lange Zeit den Fokus eher auf innovative, moderne und experimentelle Literatur gelegt hat. In der BRD war die Literaturwissenschaft stark beeinflusst von strukturalistischen, später dekonstruktivistischen und ideologiekritischen Strömungen – Foucault, Derrida, Adorno, Benjamin. In der DDR hingegen spielte die Literatur als „Bildungsauftrag“ eine andere Rolle: Klassische deutsche Autoren wurden, im Dienste eines humanistischen Bildungsideals, gepflegt. Gleim – als Aufklärer, Humanist, Patriot – passte dort gut hinein.
Gleims Werk – zu nett, zu brav?
Gleims Lyrik gilt heute als gefällig, moralisch, manchmal pathetisch – weniger als ästhetisch revolutionär. Die Literaturgeschichte bevorzugt meist die Exzentriker, Visionäre, Stilisten – Herder, Goethe, Schiller. Gleim dagegen war eher ein verbindender Geist, kein Grenzgänger. Damit gerät man schnell in das literarische Abseits.
DDR und BRD – Wer erinnert wen?
Regionale Traditionslinien: Halberstadt lag nach dem Zweiten Weltkrieg in der sowjetischen Besatzungszone. Dort hat man das Gleimhaus als kulturelles Erbe erhalten und gepflegt, mit einem starken Fokus auf deutscher Aufklärung und Literaturvermittlung. In der Bundesrepublik dagegen wurde solche Pflege eher als „verstaubt“ belächelt – man wollte „moderne“ Literaturwissenschaft betreiben, nicht museale Andacht.
Funktion statt Faszination
Gleim war ein Knotenpunkt, kein Solitär. Er ist mehr durch seine Beziehungen bedeutsam als durch sein eigenes Werk. Das macht ihn für narrative Literaturgeschichten schwer einzuordnen – er ist eher Netzwerker als Dichterfürst. Heute würde man sagen: ein Literatur-“Influencer” des 18. Jahrhunderts. Aber “Influencer” landen selten im Kanon, sondern eher in den Fußnoten.
Es scheint also kein Zufall, sondern Ausdruck tieferer kultureller Filterprozesse, zu sein, daß Gleim in der westdeutschen Ausbildung weitgehend ignoriert wurde. Und umso kostbarer ist es, daß es Orte wie das Gleimhaus gibt, die diesen Faden weitertragen.
Zum Schluß dieses Artikels lassen wir Gleim noch einmal selbst sprechen:
Liebe, weg! Du zankst dich nur,
Bist nicht immer eifersüchtig!
Siehst in’s helle Sonnenlicht,
Bist nicht unstät, bist nicht flüchtig!
Freundschaft, bleib’! Du zankst dich nicht,
Bist nicht immer eifersüchtig!
Siehst in’s helle Sonnenlicht,
Bist nicht unstät, bist nicht flüchtig!
Komm’ und sitz’ auf meinem Schooß,
Herrsch’ in meinem kleinen Staate! –
Wie werd’ ich die Liebe los?
Rathe, liebe Freundschaft, rathe!
(Gleim, J. W. L.: Liebe und Freundschaft, in: Gedichte, Projekt Gutenberg, Kapitel „Liebe und Freundschaft“, //bilder.deutschlandfunk.de/FI/LE/_4/30/FILE_4300ae2cf0fd78b62e6684fbea705ae8/lyrix-u-materialien-dezember12-gleim-karsch-pdf-100.pdf (besucht am 21.06.2025)