Ein innergalaktisches* Interludium in meiner Irland-Folge
Hinweis für meine Leserinnen und Leser: Dieser Text enthält inhaltliche Details aus dem Film „Elio“ (2025, Disney/Pixar) – insbesondere zu zentralen Wendepunkten und Figurenentwicklungen. Wer die Geschichte unvoreingenommen genießen möchte, sollte zunächst den Film schauen – und dann gerne hier weiterreisen.
Es war heiß und die Klimaanlage im Kino lockte. Also schaute ich mir den Film „Elio” in der Nachmittags-Vorführung an und fühlte mich durchaus gut unterhalten.
Der Film beginnt als verträumtes Kinderabenteuer – doch bei näherer Betrachtung offenbart er sich als vielschichtige symbolische Allegorie. Unter seiner glitzernden Oberfläche verbirgt sich eine stille Erzählung über Verlust, Zugehörigkeit und die archetypischen Kräfte, die unsere Seelenarchitektur prägen – besonders jene des Männlichen und Weiblichen.
Im Zentrum des Films steht Elio Solís, ein Waisenjunge, der kürzlich seine Eltern verlor.
Der Junge lebt nun bei seiner Tante Olga Luna, die für ein US-Militärprojekt im Bereich Raumfahrt tätig ist. Olga trägt eine “Major”-Uniform und zeigt so, daß sie sich in ein System eingegliedert hat, das ihr zwar Karriereschritte verspricht, jedoch für den Preis einer ständigen beruflichen Verfügbarkeit. Letzteres gerät durch Elio ins Wanken. Olga ist zwar liebevoll um den kleinen Jungen bemüht, wirkt dabei jedoch zerrissen zwischen beruflichen Anforderungen und fürsorglichen Ambitionen. Es ist daher kaum verwunderlich, daß sie keinen Zugang zu dem kleinen Jungen bekommt, der sich von Aliens entführen lassen will.
Durch ein galaktisches Missverständnis landet Elio dann im Communiverse, einem interplanetarischen Paradies, sozusagen einer kosmischen UNO, in der Wesen aus zahllosen Galaxien in friedlicher Koexistenz leben. Seine Aufgabe nun: Er soll die Menschheit vertreten und das Communiverse gegen ihre Feinde verteidigen.
Im Film werden also zwei archetypische Pole aufgebaut:
- Einmal sind es die Aliens des Communiverse. Sie wirken wie vergrößerte Mikroben, Organismen aus der Ursuppe des Lebens. Ihre Körper sind amorph, fließend, durchscheinend In ihnen lebt das Ursprüngliche, das noch nicht festgelegt ist. Im Communiverse begegnet uns also das archetypisch Weibliche: das Formlose, Wandelbare und Empfangende. Dies ist insofern bemerkenswert, als daß der Film – trotz seiner unbestreitbaren Nähe zum heutigen „woken“ Zeitgeist – indirekt traditionelle geschlechtliche Zuschreibungen aufgreift, die in aktuellen Diskussionen als „patriarchal“ gebrandmarkt werden. Solche Vorstellungen werden im Film nicht – wie es vielleicht erwartbar gewesen wäre – dekonstruiert, sondern als ein Prinzip, das von Offenheit, Toleranz und kindlicher Magie geprägt ist, gezeigt.
- Auf der anderen Seite gibt es die Wurmwesen in Uniform, angeführt vom furchtbaren Grigon. Diese Aliens sind kriegerisch und hierarchisch strukturiert. Sie tragen, im überzeichneten Sinne, die Signatur des männlichen Prinzips – und sind als Symbol für Trennung, Klarheit, Ordnung, Durchsetzung zu lesen..
Die für mich eindringlichste Szene im Film ist die, wo Grigon seine Rüstung aus Liebe zu Glordon, seinen friedvoll und verspielten Sohn (und damit wohl ein Seelenpartner von Elio) abnimmt. Dieser Akt der Verletzlichkeit wird zur “Hieros Gamos”, zur heiligen Hochzeit der Gegensätze: Macht trifft Offenheit, Struktur wird zu Beziehung und vielleicht finden sich, so das unausgesprochene Versprechen des Films, neue Formen von gelebter Weiblichkeit und Männlichkeit, die eine zukünftige “bessere” Gesellschaft ermöglichen werden. Wie diese Neu-Definitionen von Geschlechter-Rollen konkret aussehen können, bleibt jedoch unklar.
Vielleicht liegt die Lösung ja in Elio, dem kleinen Protagonisten des Films. Er trägt den Namen eines Sonnenkindes – Helios. Sein Licht ist Vermittler: zwischen Erde und All, zwischen Form und Fluss, zwischen Kontrolle und Herz. Er kehrt zurück auf die Erde– bleibt aber mit dem Communiverse verbunden. Er wird so zum Grenzgänger und vielleicht auch zu einem zukünftigen Vermittler, der starre Grenzziehungrn durch spielerische Leichtigkeit auch in Zukunft auflösen wird.
Geplante queere Szenen – etwa eine trashig-ironische „Modenschau“ – wurden, so das Gerücht, im Film gestrichen. Auch Elio selbst sollte ursprünglich “gender-fluid” erscheinen. Wäre dies durchgesetzt worden, hätte dies das klare Zusammenprallen von männlich und weiblich Archetypen zugunsten einer platten Propaganda, im Sinne der gegenwärtigen ideologischen Überschreibungen, verwässert.
Somit bietet Elio nicht nur ein Nachdenken über eine Verortung des Weiblichen und des Männlichen in unserer Zeit, sondern durch gesetzte Brechungen, die eventuell auch nur zufällig zustande gekommen sind, eine symbolische Auseinandersetzung von Gegenwartstendenzen, die nur allzuoft in plumpe Ideologien enden.
Inwieweit der Film als ein stilles Plädoyer für eine „Care-Ethik“ im Sinne von Gilligan und Noddings gelesen werden kann – und damit ein feministisches Paradigma aufruft, das nicht nur persönliche Beziehungen, sondern auch gesellschaftliche Strukturen neu denkt –, ist eine Frage, die zur Diskussion einlädt. Vieles spricht dafür: Elio, der kindliche Protagonist, verkörpert Werte wie Empathie, Beziehungsfähigkeit und situative Verantwortung – jene Tugenden, die im Zentrum einer fürsorglich orientierten Ethik stehen.
Auch wenn dieser Gedankengang reizvoll scheint, möchte ich ihm an dieser Stelle nicht weiter nachgehen, um so Raum für eine breitere symbolische Lesart des Films als mythische Innenreise zu lassen. Ich verstehe „Elio“ als Einladung, die dazu auffordert, die inneren Pole neu zu kartographieren – nicht als ideologische Setzung, sondern als eine lebendige Mythenreise, die uns in jenen Zwischenräumen führt, wo sich Form und Fluss, Kontrolle und Hingabe begegnen.
Das Nachdenken über Geschlechter-Stereotypen und das Aufbrechen derselben ist nur ein möglicher Interpretationsansatz, den der Film den Zuschauer anbietet. Nicht verfolgt habe ich in meinen Überlegungen beispielsweise die Themen Anderssein und Selbstwert, Trauer und Heilung, Vereinzelung und Gemeinschaft, usw. All dies wird im Film angesprochen.
Vielleicht jedoch, dies ist meine Kritik am Film, hat sich “Elio” in seiner Themenvielfalt etwas zu viel vorgenommen, andererseits hat diese breite Aufstellung den Film gerade davor bewahrt, in eindimensionale “woke” Plattheiten zu versinken. Dann nämlich hätte ich den Kinosaal vor Ende der Vorführung verlassen, so aber erlebte ich einen unterhaltsamen Nachmittag.
- „Intergalaktisch“ beschreibt hier nicht nur die äußere Dimension – die Reise ins Communiverse –, sondern lädt uns ein, zwischen den Galaxien unserer Seele zu wandern. Wir entdecken Archetypen, die jenseits von Raumzeit pulsieren: männlich und weiblich, Kontrolle und Offenheit, Form und Fluss.