“Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf”, heißt es im Zarathustra.
Das Menschenpaar bildet eine Linie mit dem Fackelträger, der über den Maschsee schwebt.
Das Paar schaut direkt zum Fackelträger. Tun wir es ihm nach:
Der Fackelträger, übrigens genauso wie der Fischreiter und der Putto, von Hermann Scheuernstuhl gestaltet, tänzelt auf einer Weltkugel, streckt seine rechte Hand in die Höhe, während seine linke eine Fackel hält.
Er blickt von Norden nach Süden, steht dabei auf einer Säule, die aus weißen Steinquadern errichtet ist und die auf diese Art und Weise – vielleicht nicht nur zufällig – an die Prestigebauten des alten Roms erinnert, für die weißer Carrara-Marmor benutzt wurde.
Die Fackel verweist sicherlich auf die 1936 in Berlin stattgefundenen Olympischen Spiele. Der Fackelträger selbst wurde 1937 aufgestellt.
Vom Zarathustra-Kind zum Fackelläufer der Ideologie
Im Fackelträger erfährt das Kind seine Steigerung.
Wirklich? Aufgepasst: An dieser Stelle verlasse ich die auf Friedrich Nietzsche bezogene Rezeption des “Zarathustras” . Von nun an müssen wir die Weltsicht des Nationalsozialismus in unsere Überlegungen miteinbeziehen, um zu verstehen, was hier gemeint sein könnte.
Dabei kann ich allerdings nicht oft genug betonen, dass es sich wohlgemerkt um meine persönliche Interpretation des Skulpturen-Ensembles am Maschsee handelt. Sie ist bisher durch keinerlei Quellen belegt (bzw. habe ich mich noch nicht auf eine entsprechende Suche begeben).
Meine Interpretation kann “an den Haaren herbeigezogen” sein. Sicher bin ich mir jedoch, dass der Blick auf die Skulpturen mit der Gedankenschablone, die ich hier entwickle, interessante Fragestellungen aufleuchten lässt, die es verdienen näher betrachtet zu werden.
Und so wiederhole ich es ein zweites Mal: Im Fackelträger erfährt das Kind seine Steigerung.
Aleister Crowley und das Kind
Diese Aussage ergibt durchaus einen Sinn, besonders, wenn wir jetzt einen kleinen Abstecher zu Aleister Crowley, dem großen britischen Okkultisten, unternehmen, der sich selbst als das Große Tier 666 bezeichnet hat.
In seiner Thelema-Bewegung beschreibt ein Æon ein spirituelles Zeitalter. Laut ihm befinden wir uns im Zeitalter des Horus oder des Kindes, vorausgegangen sind die Zeitalter des Osiris und der Isis.
Die Vorstellung von einer Abfolge von Æonen war schon beim Hermetic Order of the Golden Dawn gebräuchlich, der sich wiederum auf gnostisch-ägyptische Quellen berief, in der das göttliche Pleroma-Licht Mutter und Vater ins Sein brachte, deren Kinder wiederum die Æonen oder auch die Götter sind.
Kannten die Nationalsozialisten dieses Gedankengut?
Wollten sie das Zeitalter des Horus, was von Crowley auch als Zeitalter des Kindes beschrieben ist, implantieren?
Oder wollten sie ein ganz neues, eigenes Æon erschaffen, das Nietzsches postulierte “ewige Wiederkehr” durchbricht?
Wollten sie den Übermenschen erwecken und das, was Nietzsche als individuelle Entwicklungsstufe gemeint hat, zum arischen Volks-Gott umdeuten?
All dies muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Leider verschwanden Unterlagen (oder wurden zum Verschwinden gebracht), die Auskunft hätten geben können, beispielsweise aus der Zeit, in der sich Crowley im Berlin aufhielt (1930 – 32) genauso wie “Dokumente, die den Einfluss esoterischen Denkens auf die Naziführung belegten”. (Siehe auch: Goodrick-Clarke, Nicholas: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, S. 206 und Baigent, Michael/Leigh, Richard: Geheimes Deutschland, S. 321 f.)
Zarathustra im Schatten des Nationalsozialismus
Nietzsches Zarathustra jedenfalls wurde im Nationalsozialismus häufig und gerne rezipiert (siehe auch: Wikipedia), womit ich jetzt – wie versprochen – zum Menschenpaar zurückkomme.
Georg Kolbe, ihr Bildhauer, hat sich erwiesenermaßen nicht nur gedanklich, sondern auch künstlerisch mit Zarathustra auseinandergesetzt, u. a. um den Tod seiner Frau zu verarbeiten.
Auch Hermann Scheuernstuhl ist eine solche Lektüre zuzutrauen, immerhin hat er einen reformierten Zarathustrismus als Religion gepflegt, genannt: Mazdaznan.
Wie die Künstler der Skulpturen im Einzelnen zum Nationalsozialismus standen, ist ein anderes Thema, was ich hier abschließend nur kurz anreißen möchte.
Siegfried Schildmacher jedenfalls betont im HAZ-Artikel, dass die Fackel des Läufers als Symbol der Aufklärung gesehen werden kann, die dadurch, dass sie nach unten gehalten wird, zur heimlichen Kritik Hermann Scheuernstuhls am dunklen Zeitgeist wird.
Bei den Modellen für das Menschenpaar von Georg Kolbe, die melancholisch auf den Fackelträger blicken, handelt es sich um jüdische Geschwister, sodass hier – vom Künstler gewollt oder ungewollt – im Figurenensemble am Maschsee eine Art von “Stolperstein” implantiert ist, der auf die vielen Opfer der nationalsozialistische Ideologie verweist.
Über eine Maschsee-Figur, die nicht am Maschsee steht, könnt ihr hier nachlesen: Fischreiher